In Deutschlands grösstem Bordell
Reportage Im Artemis kann man Sex ohne schlechtes Gewissen kaufen. Oder doch nicht? Ein Besuch im «saubersten» Puff von Berlin.
Verena Mayer und Ronen Steinke
Ein Gebäude mit einer hohen Glastür, dahinter eine Rezeption mit Tresen. Eine Treppe führt zu Zimmern und Suiten, eine andere zu Hamam und Fitnessbereich. Die Räume sind hell, Putzkräfte wuseln durch das Haus, es riecht nach Pool. Nur an den Schildern erkennt man, worum es an diesem Ort geht: «Hier herrscht Kondompflicht». Das grösste Bordell Deutschlands präsentiert sich wie eine Mischung aus Hotel und Spa.
Auf den Ledersofas sitzen nackte Frauen, unterhalten sich leise. An der Bar ein gepflegter Mann, um die 40, frisch geduscht, Bademantel. Einer der ersten Besucher des Tages. Er trinkt einen Cappuccino. Keine der Frauen hakt sich bei ihm unter, sie lächeln ihn an. Wer schon mal erlebt hat, wie an der Hamburger Reeperbahn die Prostituierten auf Passanten zugehen, der staunt über so viel Gelassenheit.
Bis zu 100'000 Besucher zählen sie im «Artemis» im Jahr. Männer, wie sie an diesem Wintervormittag in roten Bademänteln durch das Haus schlurfen. In den Wellnessbereich mit den griechischen Statuen, wo das Poolwasser lila vom Schwarzlicht leuchtet. Zu den Zimmern, die «Cleopatra» heissen, «Casablanca», «Toscana», «Venus». Oder «Phallus». Viele Besucher sind jung, oft kommen Touristen aus skandinavischen Ländern, in denen sie als Freier bestraft würden. Im Artemis wollen sie Sex ohne schlechtes Gewissen kaufen. Denn das ist der Ruf, den das Haus weit über die deutsche Hauptstadt hinaus hat: ein Bordell zu sein, in dem die Frauen gut verdienen, kommen und gehen, wie sie wollen. Und wenn sie gerade nicht arbeiten, können sie Wellness machen.
Die Frauen müssen 80 Euro Eintritt bezahlen, um im Artemis arbeiten zu können.
Die Betreiber haben viel getan, um das Artemis bekannt zu machen: Sie haben Werbung bei Fussballspielen geschaltet, auf Taxis, Bussen, Strassenbahnen, und immer wieder durften Journalisten aus aller Welt kommen, staunen und sich Champagner, der 150 Euro aufwärts die Flasche kostet, einschenken lassen. Von den Frauen, die hier arbeiten. Sie sehen aus wie Models, die auf ein Fotoshooting warten. Der saubere Puff also? Ein jahrelanges Ermittlungsverfahren der Berliner Justiz wegen Sozialbetrugs ist gerade zu Ende gegangen. Dutzende Frauen sind von Ermittlerinnen befragt worden. In dieser Welt, die vom Vortäuschen lebt, ist ein Blick hinter die Kulissen selten. Hunderte Seiten Akten hat die «Süddeutsche Zeitung» ausgewertet, und auch wenn die Ermittlungen letztlich von Richtern gestoppt worden sind, zeichnen die Akten ein anderes Bild vom vermeintlichen Vorzeigebordell.
In diesem Ermittlungsverfahren geht es nicht um Gewalt oder Menschenhandel. Das Artemis ist kein Ort der blauen Flecken, die Frauen sind sicher. Es geht um etwas anderes: darum, welche Rechte Prostituierte haben sollen. Der Inhaber des Artemis habe Millionen angehäuft, glaubt die Berliner Staatsanwaltschaft, Millionen, von denen kein Cent an Sozialleistungen für die Prostituierten ausgegeben wurde. Die Frauen bekommen keinen Kündigungsschutz, keinen Urlaub, kein Krankengeld, all die Dinge, die für Arbeitnehmerinnen selbstverständlich sind. Das Artemis ist kein Einzelfall in der Branche, im Gegenteil, aber die Diskrepanz zwischen Schein und Sein sticht hier bei genauerem Hinsehen besonders ins Auge und lässt erahnen: Faire Sexarbeit ist möglicherweise doch nicht viel mehr als eine Illusion.
Der Tag im Grossbordell beginnt am Empfang. Dort, wo der riesige Schriftzug «Artemis» über dem Tresen prangt. Die Männer zahlen 80 Euro Eintritt und verstauen ihre Kleidung in einem Spind in der Umkleide. Dort zahlen sie nach dem Sex den Frauen ihr Honorar, eine halbe Stunde kostet 60 Euro. Die Frauen müssen ebenfalls 80 Euro Eintritt bezahlen, um im Artemis arbeiten zu können. Auf eigenes Risiko, offiziell selbständig. In den Akten liest sich das allerdings anders: «Wenn eine nicht arbeiten kann, wird sie rausgeschmissen», so hat es eine der Prostituierten, Maryam R., den Ermittlerinnen des Berliner Landeskriminalamts erklärt. «Auch im Falle einer Krankheit wird man rausgeschmissen. Man hat in der Woche einen Tag frei.»
Auf einem Sofa am Empfang sitzt Nova, 33. Sie heisst nicht Nova, das ist ihr Künstlername. Nova ist bis auf die hochhackigen Schuhe nackt, sie lächelt und guckt sich um, als versuche sie abzuschätzen, mit welchen Männern sie an diesem Vormittag schlafen wird. Sie braucht mindestens zwei Freier, um überhaupt den Eintritt reinzubringen. Seit neun Jahren arbeitet Nova im Artemis, sie kann sich gut an die Anfangszeit erinnern, in der sie oft krank war, wegen «der Bakterien, denen man ausgesetzt ist, wenn man mit so vielen Leuten zu tun hat». Fast hätte sie wegen einer Krankheit den Job ganz aufgeben müssen. Nova liess sich die Brüste vergrössern, doch die OP lief nicht gut, sie bekam Infektionen. Fast eineinhalb Jahre lang fiel sie aus. Hätte ihre Familie sie nicht aufgefangen, wäre sie aus dem Loch wohl nicht herausgekommen.
Hakki Simsek ist der Inhaber des Artemis. Dunkler Kaschmirpullover, gepflegte Hände. Simsek, 56, ein jovialer Mann, den man sich auch als Wirt eines Restaurants vorstellen kann, führt gerne durch das Bordell. Er ist als Kind türkischer Gastarbeiter in Bayern aufgewachsen und hat mit Spielhallen angefangen. Dann kam die rot-grüne Bundesregierung. Ende 2001 schuf sie das Prostitutionsgesetz, das den Umgang mit der Prostitution auf den Kopf stellte. Den eigenen Körper zu verkaufen ist nicht mehr sittenwidrig, man kann Verträge abschliessen, Räume mieten, Lohn einklagen. Und man kann ein Bordell betreiben wie ein normales Unternehmen.
Genau das wollte Simsek, als er 2005 mit seinem Bruder Kenan das Artemis eröffnete. Er sei nie ein Zuhälter gewesen, sagt er, schon wegen seiner Mutter nicht. Er macht den Frauen ein Angebot: Nach beendeter Schicht – die Frühschicht geht von elf bis 20 Uhr, die Spätschicht von 20 Uhr bis fünf – können sie im Artemis übernachten, für 30 Euro. Dafür gibt es ein eigenes Stockwerk, eine geschwungene Treppe führt dorthin. Diesen Teil des Hauses bekommen Freier nicht zu sehen, kleine Zweibettzimmer, wie in einem günstigen, aber sauberen Hotel. Dusche und WC sind auf dem Gang. In diesem Bereich sollen die Frauen ungestört sein, abgeschminkt.
Soziale Absicherung für die Frauen, Krankengeld oder sogar Urlaub: Dazu ist Simsek nicht verpflichtet.
Hier zieht nun Hakki Simsek den Generalschlüssel heraus, und schon steht er in einem dieser Zimmer. Es ist dunkel. Jemand regt sich, zerzaust und blinzelnd setzt sich eine junge Frau mit dunklem Teint in ihrem Bett auf. Simsek entschuldigt sich, er wusste nicht, dass hier jemand schläft. Aber wo wir schon mal da sind – können wir uns mal umsehen, oder? Simsek lacht. Und die junge Frau im Bett lacht auch. Sie hat Simsek erkannt. Auch sie ist auf dem Papier selbständig. Auch sie muss sich aber wie die anderen Frauen im Artemis an Regeln halten. Die Simsek-Brüder bestimmen. «Wenn eine Frau etwas falsch gemacht hatte, dann war am nächsten Tag gleich Besprechung», hat die Prostituierte Daniela O., 24, aus Bukarest den Ermittlerinnen des LKA erzählt. «Das war dann oft dienstags. Da wurden die Regeln wiederholt.» Die Simsek-Brüder erklärten zum Beispiel, dass die Frauen keine Grüppchen bilden sollten, das mache keinen guten Eindruck auf die Kunden. Oder dass sie nicht mehr Geld verlangen sollten als vorab mit den Freiern vereinbart. Manchmal halten die Simsek-Brüder auch grosse Treffen mit allen Prostituierten des Hauses ab. Dann gehen sie in einen besonderen Raum, die Frauen sitzen dann eng gedrängt auf Plüschsofas, einem riesigen Bett und dem Rand eines Whirlpools. Von der goldenen Decke hängen orientalische Laternen. Es ist die «Suite», gleich angeschlossen an das Chefbüro, in dem offiziell nicht die Simsek-Brüder regieren, sondern ein junger Geschäftsführer.
Hakki Simsek reisst auf seiner Tour durch das Haus die Tür der Damen-Umkleide auf. Ein enger Korridor, beleuchtete Spiegel. Davor sitzen nackte Frauen, pudern sich die Wangen oder tragen Lippenstift auf. Hier hing einmal ein Zettel aus: «Wichtig!!! Da wir ein FKK-Wellnessbordell sind, möchten wir in Zukunft nicht mehr, dass Netzteile oder Röckchen zur Arbeit getragen werden.» Nur mittwochs ist das anders. Da sind Motto-Outfits für die Frauen vorgeschrieben. In ihrer Kleiderwahl wirken die selbständigen Frauen nicht mehr ganz so selbständig. Simsek bestreitet, den Frauen Vorschriften zu machen. «Ich bin nicht der Chef.» Er sei nur Gastgeber, Zimmervermieter. Die Frauen seien «selbständige Prostituierte», kleine Ich-AGs. Die Simseks fragen auch nicht nach, was sie verdienen, die Frauen können ihren Lohn direkt in ihre eigene Tasche wirtschaften. Das ist der Deal. Soziale Absicherung für die Frauen, Krankengeld oder sogar Urlaub: Dazu sei er nicht verpflichtet, findet Simsek deshalb.
Wenn man mit ihm durch das Haus läuft, über Treppen und Terrassen, behindertengerechte Aufgänge, vorbei am Sex-Kino und der Tafel, auf der man sieht, welche Zimmer gerade belegt sind, bekommt man den Eindruck von einem Arbeitsleben mit oben und unten, wie es Menschen auch in fast allen Branchen kennen. Die einen geben die Regeln vor, die anderen befolgen sie. Der Unterschied: Die, die im Artemis das Sagen haben, erlauben sich, die Prostituierten allein zu lassen mit den Risiken des Geschäfts. Und mit den Kosten. Für Kondome etwa oder die vorgeschriebenen Gesundheits-Checks. Ein Urintest kostete 30 Euro, Blutabnehmen 50. Vor allem für die rumänischen Mädchen sei das sehr teuer gewesen, sagte eine Zeugin den Ermittlern
An der Rezeption rufen im Laufe eines Tages immer wieder Frauen aus den Zimmern an. Die Hausdamen, Frauen in Jeans, nehmen den Hörer ab. Sie sind die Augen und Ohren der Inhaber. Ein Dialog, rekonstruiert aus Zeugenaussagen: Am Telefon meldet sich die Prostituierte «Lea». Sie sagt, sie fühle sich nicht gut, und fragt die Hausdame Ramona S., ob sie nach Hause gehen könne. Die Schicht abbrechen. Die Antwort: Ja, sie darf. Ihren Eintritt von 80 Euro bekommt sie aber nicht zurück. Das Artemis führe Wartelisten für die Frauen, sagt der Bordellinhaber Simsek. Die Plätze seien meist sehr knapp, aber «natürlich wollen wir, dass Frauen nach Hause gehen, wenn sie sich unwohl fühlen.» Das sei deren Entscheidung.
Eine Prostituierte erzählte den Ermittlern, was geschieht, wenn man sich einen Schnupfen einfängt: «Wegen der Ansteckungsgefahr kannst du bei Krankheit nicht bleiben.» Auch wenn die Prostituierten für ihre Unterkunft in den Zweierzimmern vorab Miete bezahlt hätten, müssten sie auschecken, um nicht die Kolleginnen anzustecken. Man darf sich nicht ins Zimmer zurückziehen. Wer krank wird, hat Pech.
Andere Frauen berichteten, dass ihre Krankmeldungen nicht immer auf Anhieb akzeptiert worden seien: «Ich kann nicht einfach gehen», hatte die Artemis-Prostituierte Katharina K. damals ausgesagt. «Schicht ist Schicht.» Klingen so Frauen, die völlig frei als Selbständige arbeiten? Der Bordellinhaber Simsek beteuert: Es gebe keinen Zwang für die Frauen, ihre Schicht zu beenden. Sie müssten nur Bescheid sagen, bevor sie gehen. Mehr nicht.
Das Artemis ist ein Symbol für das Machtgefälle zwischen einigen wenigen Männern, die gut am Sex verdienen, und den Frauen.
Simsek betont auch, die Prostitution sei nicht mehr so, wie man sich das vorstelle: Er habe schon eine türkische Frau im Artemis gehabt, die sich hier ihr Studium verdiente, eine andere Frau wurde von ihrem Mann gebracht, und im Auto warteten die Kinder. Auch deshalb würden sich die Frauen nicht fest an ein Haus binden wollen. «Manche bleiben ein halbes Jahr, andere sind Wandervögel. Wie soll man da einen Anstellungsvertrag hinbekommen?» Raus aus dem Schatten, rein in das abgesicherte Leben mit Sozialversicherung. War das nicht der Gedanke, als die Prostitution legal wurde?
Hakki Simsek hat gerade einen Sieg über die Berliner Ermittler gefeiert. Seine Behauptung, dass die Frauen in seinem Edelbordell zufriedene Ich-AGs seien, die keine Absicherung bräuchten, hat zwar nicht alle überzeugt. Aber die Strafrichter am Berliner Kammergericht hielten ihm zugute: Er habe es nicht besser gewusst. Simsek habe immer alles offengelegt, Sozialbehörden und Finanzämter hätten sich nicht beschwert. Wenn selbst «fachkundige Prüfer», wie es das Berliner Kammergericht formulierte, nichts zu beanstanden hatten – warum hätte dann Simsek ein schlechtes Gewissen bekommen sollen? Die Akte Artemis hat die Staatsanwaltschaft jetzt zugeklappt, der Betrieb läuft weiter, das Geschäft mit dem Sex bestens. An der Bar geht das Bier für zehn Euro über den Tresen, in jeder Schicht warten um die hundert Frauen auf Freier.
Das Artemis ist auch ein Symbol für das Machtgefälle zwischen einigen wenigen Männern, die gut am Sex verdienen, und den Frauen. Nova sitzt immer noch nackt auf dem Sofa. Sie erzählt, dass sie aus Hamburg kommt. Ihre Freunde wissen nicht, was sie arbeitet, sie sage, sie sei «im Hotelgewerbe». «Viele denken ja schon noch, dass das etwas Schmuddeliges ist.» Dann steht sie auf, sie muss weiter. Zu ihrer Arbeit, das Artemis füllt sich bereits.
(Redaktion Tamedia)