In der Schweiz gibt es rund 10'000 Prostituierte. Mehr als jeder zweite Mann soll schon einmal deren Dienste in Anspruch genommen haben. Die Sexologin Esther Elisabeth Schütz findet daran nichts Schlimmes.
Interview
Frau Schütz, welche Merkmale haben Freier gemeinsam?
Es sind Männer. Und sie haben häufig eine starke Libido.
Das ist alles?
Im Prinzip ja. Ich bin schon lange als Sexualtherapeutin tätig und mit der Thematik gut vertraut. Dass ein Mann zu einer Prostituierten geht, kann immer vorkommen, unabhängig von Schicht, Bildung, Aussehen oder Alter.
Haben Freier nicht gewisse Charaktereigenschaften gemein?
Nein. Die einen zahlen nun mal für Sex, die anderen nicht. Jene, die zahlen, machen es sich womöglich etwas einfacher: Gegen Geld bekommen sie Sex, ohne etwas Weiteres dafür tun zu müssen. Es kann sein, dass einigen unter ihnen die nötige Verführungskompetenz fehlt, um mit geringem Aufwand im Ausgang eine Frau für einen One-Night-Stand zu gewinnen. Bei einer Prostituierten sind sie sicher, dass diese nicht noch mehr von ihnen will.
Schätzungsweise 70 Prozent aller Männer sollen einmal in ihrem Leben die Dienste einer Prostituierten in Anspruch genommen haben.
Diese Zahl erachte ich als realistisch. Ich frage mich manchmal eher, welche Männer das nicht schon getan haben. Und: Wie viel beichten es?
Sie sind erstaunt, dass nicht jeder ins Bordell geht?
Wenn man so will, ja. Theoretisch könnte das – aufgrund seines Mannseins – jeder tun. Gut, einer kann vielleicht seine Libido besser regulieren als der andere. Aber die Fantasie, mit einer fremden Frau zu schlafen, hat doch jeder.
Was suchen Männer bei Prostituierten? Das, was sie zu Hause nicht kriegen?
Das kann sein. Manche Männer empfinden das Vorspiel mit ihrer Partnerin als anstrengend. Eine Prostituierte geht ohne eigene Ansprüche auf ihre sexuellen Wünsche ein. Viele suchen die Spannung des Augenblicks, des Nichtvorhersagbaren, des Fremden, das sie als Erregungsquelle nutzen.
Ist die Hemmschwelle gesunken, eine Prostituierte aufzusuchen?
Nicht dass ich wüsste. Das ist doch seit eh und je so. Vielleicht hat die Bevölkerung zugenommen. Auch, dass der Strassenstrich in die Agglomerationen abwandert, kann etwas ausgelöst haben. Die geografische Distanz ist kleiner geworden. Zudem inspiriert die Vielfalt der sexuellen Angebote.
Kann man da noch von einem Tabu sprechen?
Ich habe in den Jahren als Sexualtherapeutin viel Verständnis dafür entwickelt, wie Menschen ihre Sexualität gestalten. Alle suchen das Glück in der Liebe und in der Sexualität. Es ist verständlich, dass es für eine Frau eine Riesengeschichte ist, wenn sie erfährt, dass ihr Mann ein Bordell besucht hat. Eine mögliche Hauptsorge der Frauen ist: Schützen sich die Männer und übernehmen sie Verantwortung für sich und ihre Partnerin?
Es ist also verständlich, wenn ein Mann in ein Bordell geht, er soll es aber ja nicht beichten?
Er muss es mit sich verantworten können. Und er muss sich vor allem vor einer Ansteckung schützen. Ich habe mit Klienten in der Sexualtherapie schon Riesendramen erlebt, weil der Mann zu Hause erzählt hat, dass er einmal fremdgegangen ist. Die darauffolgende Krise konnte schon mal zwei Jahre dauern. Da muss man sich fragen: Soll ich es beichten und das Drama überstehen oder besser schweigen und die Energie in die Liebesbeziehung investieren? Wenn ein Mann häufig ein Bordell besucht, ist das etwas anderes, dann stimmt in der Beziehung auf der sexuellen Ebene logischerweise etwas nicht.
Wann kann es ratsam sein, ein Bordell zu besuchen?
Ja, klar. Ich habe das zwar noch nie jemandem geraten. Aber ich rege das Gespräch auf dieser Ebene an. Etwa wenn ein 40-Jähriger Mann noch nie mit einer Frau geschlafen und deswegen einen unheimlichen «Knorz» hat.
Das kann helfen?
Es kann ihm das Selbstverständnis geben, dass er funktioniert.
Egal, wohin er geht?
Nein, im Gegenteil, selbstbewusste Männer wählen immer!
Worauf sollten sie achten?
Für mich als Sexologin wäre eine gute Adresse eine, welche garantiert, dass die Prostituierten sich schützen und sich regelmässig medizinisch untersuchen lassen. Und wo sie zu kontrollierten guten Bedingungen arbeiten können. Arbeitsbedingungen, welche sie vor Gewalt und Ausbeutung schützen. Beim Kauf von Bananen garantiert Havelar, dass die Arbeiter zu fairen Bedingungen ihren Lebensunterhalt verdienen. Ein Label für Fair-Trade-Sex könnte ebenso gute Arbeitsbedingungen für Prostituierte sichern.
Nicht selten schenkt der Vater seinem 18-jährigen Sohn einen Besuch im Bordell.
Es liegt nicht am Vater, den Sohn in die Sexualität einzuführen. Die Sexualität führt in die Ablösung und die Autonomie. Deshalb ist es Sache des Sohnes, wie und mit wem er seine Sexualität lebt.
Was, wenn junge Männer sich nicht trauen, eine Frau anzusprechen?
Das ist tatsächlich ein neues Phänomen, es kommen zunehmend junge Männer zu mir in die Sexualtherapie, um die 18 Jahre alt, die zwar sehr einfühlsam sind, aber sich nicht mehr trauen, eine Frau anzusprechen oder bereits Erektionsprobleme haben. Da frage ich mich, inwieweit Mütter und Väter ihre Söhne in der Kindheit genug in ihren Fähigkeiten unterstützt haben, ihre männliche Potenz zu entwickeln.
Kommt es vor, dass sich ein Freier in eine Prostituierte verliebt?
Das dürfte die Ausnahme sein. Der Geschäfts-Charakter sorgt für eine gewisse Abgrenzung. Es gibt Freier, die immer zur gleichen Dirne gehen. Manchmal kommt es neben dem Sex sogar zu einem guten Gespräch wie mir manche Klienten erzählen.
(Tagesanzeiger.ch/Newsnetz)
«Wer hat es nicht schon getan?», fragt sich die Sexologin Esther Elisabeth Schütz. Sie ist Leiterin des Instituts für Sexualpädagogik und Sexualtherapie in Uster und arbeitet seit Jahren als Sexualtherapeutin.