Carmen Gloria Godoy
Donnerstag, 21. Juni 2012, 20:00 Uhr
Auch wenn die Behörden im Kampf gegen Menschenhandel zur sexuellen Ausbeutung Erfolge verzeichnen, bleibt die Schweiz für Menschenhandel attraktiv. Es locken hohe Gewinne und das Risiko einer Strafverfolgung ist gering.
Menschenhandel in der Schweiz hat viele Gesichter. So gibt es weder das typische Opfer des Delikts noch den typischen Täter. Zudem erzielen Menschenhändler auf verschiedene Arten Profite mit Menschen, wie es im aktuell erschienenen Jahresbericht 2011 des Bundesamtes für Polizei (fedpol) heisst.
Sei es indem Menschenhändler, die Arbeitskraft ihrer Opfer ausbeuten – im Haushalt, in der Landwirtschaft, im Gast- oder im Baugewerbe – oder indem sie Erwachsene und Kinder zur Bettelei oder zu strafbaren Handlungen zwingen. Hinweise gab es im letzten Jahr auch auf zwei Fälle von versuchtem Menschenhandel zum Zweck der Organentnahme.
Profite durch sexuelle Ausbeutung von Frauen
Im Vordergrund bleiben jedoch die Fälle von Frauenhandel zum Zweck ihrer sexuellen Ausbeutung. Einerseits ist es die Hoffnung auf bessere Lebensbedingungen, andererseits die fehlenden legalen Aufenthalts- und Arbeitsmöglichkeiten, welche die Opfer in die Hände von Menschenhändlern treiben.
[INDENT]Wie gehen Menschenhändler vor?
- Die Opfer werden häufig mit falschen Versprechungen, wie zum Beispiel mit einem seriösen Arbeitsangebot oder mittels einer vorgegaulkelten Liebesbeziehung aus ihrer Heimat rekrutiert. Manche Frauen werden auch anderen Menschenhändlern oder Familienangehörigen «verkauft».
- Den Opfern werden ihre Papiere abgenommen
- Die Opfer sind finanziell an die Händler gebunden, so durch teilweise sehr hohe Vermittlungsgebühren
- Die Opfer werden unter psychischer und/oder körperlicher Gewaltandrohung und Gewaltanwendung gefügig gemacht und zur Prostitution oder zur Zwangsarbeit gezwungen und darin festgehalten
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Seit 2007 steigt die Zahl Prostituierter aus Ungarn. Die meisten dieser Sexarbeiterinnen gehören der Ethnie der Roma an; in sehr vielen Fällen besteht der Verdacht auf Menschenhandel. 2011 stellten mehrere Kantone zudem eine teils starke Zunahme insbesondere rumänischer, aber auch bulgarischer Sexarbeiterinnen fest. Zudem hat die Anzahl Prostituierter im letzten Jahr laut dem fedpol-Bericht einen neuen Höhepunkt erreicht.
[INDENT]Die EU-Erweiterung
- 2004: EU-Beitritt von Tschechien, Estland, Zypern, Lettland, Litauen, Ungarn, Polen, Slowakei und Slowenien
- 2007: EU-Beitritt von Rumänien und Bulgarien
- Mai 2011: Kontingentierung für die neuen EU-Staaten Lettland, Litauen, Polen. Slowakei, Slowenien, Tschechien und Ungarn fällt. Sie können sich mit einem Arbeitsvertrag oder als Selbstständigerwerbende frei in der Schweiz und in den alten EU-Staaten niederlassen und arbeiten
- Mai 2012: Aufenthaltsbewilligung für EU-8-Staaten (Estland, Lettland, Litauen, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechische Republik, Ungarn) werden für 1 Jahr wieder beschränkt.
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Osteuropäische Opfer von Menschenhandel arbeiten in der Schweiz laut dem fedpol-Bericht auf dem Strassenstrich vorab in Zürich und zunehmend auch in anderen Städten oder sie werden von den Kriminellen schweizweit in verschiedensten Rotlichtetablissements lokaler Betreiber untergebracht.
«Menschenhandel auf dem Zürcher Strassenstrich». Unter diesem Titel widmete sich die SF-Sendung «DOK» 2010 dem Thema Menschenhandel.
Dass die EU-Erweiterung im Osten zu mehr Zwangsprostitution führt, erlebt auch eine Bordellbesitzerin aus Basel, die kein Interesse daran hat, namentlich genannt zu werden. «Zwangsprostitution gibt es immer mehr», stellt die 61jährige gegenüber «SF Online» klar. Gerade Frauen aus dem Osten würden dazu gezwungen, sagt sie. Warum weiss sie das? «Ich merke sofort, wenn etwas nicht stimmt.» Seit über 20 Jahren arbeitet sie in diesem Geschäft, viele Jahre lang auch als Prostituierte.
«Meine Frauen sind alle freischaffend», betont sie darum. Nicht irgendwelche Männer würden bei ihr anklopfen, sondern es seien die Frauen, die zur ihr kämen. 40 % arbeiteten die Frauen für sich, 60 % für ihren Betrieb.
Hohe Dunkelziffer
Das tatsächliche Ausmass von Menschenhandel in der Schweiz lässt sich nicht genau benennen, denn die Ausbeutung findet im Verborgenen statt. Die Dunkelziffer der Opfer ist hoch.
Genaue Zahlen seien schwierig zu benennen, sagt denn auch die Zürcher Staatsanwältin Silvia Steiner zu «SF Online». «Pro Jahr habe ich etwa 5 oder 6 solcher Fälle. Davon ist einer ein grosser Fall mit Tätern und Opfern im zweistelligen Bereich.»
Laut dem fedpol-Bericht hatte die Polizei in allen Kantonen im Jahr 2011 222 Mal den Verdacht auf Menschenhandel. Konkretere Zahlen nennt die Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration (FIZ). Das FIZ setzt sich für den Schutz und die Rechte von Migrantinnen, die von Gewalt und Ausbeutung betroffen sind. Zu diesem Zweck leitet die Fachstelle zwei Beratungsstellen: die Beratungsstelle für Migrantinnen und die spezialisierte Interventionsstelle Makasi für Opfer von Frauenhandel. Makasi betreute im letzten Jahr 193 Opfer von Menschenhandel. Dabei kamen laut ihrem Jahresbericht 91 Fälle neu dazu. 102 Fälle wurden bereits in den Vorjahren betreut.
Wie viele Frauen genau jedes Jahr in die Schweiz rekrutiert und zu käuflichem Sex gezwungen werden, bleibt aber unklar. Klar scheint einzig: Mit der ständig steigenden Anzahl an Sexarbeiterinnen steigt auch die Anzahl Opfer von Menschenhandel.
Nicht die Opfer decken Menschenhandel auf
Angst ist der Hauptgrund, warum es keine genauen Zahlen gibt. Aus Angst vor Repressalien durch die Täter und aus Misstrauen sind die Opfer von Menschenhandel selten zur Anzeige ihrer Peiniger und zur Aussage gegenüber den Behörden bereit. Fälle von Menschenhandel werden daher in der Regel von Behörden ans Licht gebracht.
«Unsere Achillesferse sind die Opfer», sagt Staatsanwältin Steiner dazu. Denn wenn die Polizei Prostituierte in Bordellen oder auf der Strasse kontrollierten, bestritten die Frauen, Opfer von Menschenhandel zu sein. «Die Frauen sehen sich nicht als Opfer von Gewalt. Sie reden sich ein, sie hätten die Situation im Griff.» Der Mechanismus sei vergleichbar mit anderen Gewaltopfern, so Steiner.
Die von der Staatsanwältin beschriebene Situation existiere vor allem dann, wenn die Opfer in starker Abhängigkeit mit den Tätern stehen würden, z.B. wenn der Freund sich zum Ausbeuter entwickelt, sagt Doro Winkler, von der FIZ zu «SF Online».
«Andere Opfer erkennen aber sehr wohl, dass ihnen Unrecht geschieht. Sie sehen aber keine Möglichkeit, sich aus der Situation zu befreien, weil sie mit Drohungen massiv unter Druck gesetzt werden. Sie können nicht einfach raus und Hilfe holen, sie brauchen Vertrauensbeziehungen, bis sie erzählen, wie ihre Situation ist.»
Menschenhandel werde aber nicht aufgedeckt, indem eine Polizeikontrolle gemacht werde, sagt Winkler. Denn kein Opfer werde in dieser Situation genügend Sicherheit und Vertrauen haben, um zu erzählen, ob es in einer Zwangslage steckt. Deshalb müsse die Polizei aufgrund von Verdachtsmomenten oder Vorermittlungen gezielte Zugriffe machen.
«Die Zahlen der FIZ zeigen, dass rund 40 Prozent der Opfer über die Polizei (vor allem auf Menschenhandel spezialisierte Einheiten) zu uns finden. Andere finden über Freier, Bekannte, Spitäler oder anderen zu uns. Es braucht Dritte, die eine Brücke zu uns schlagen.»
Opfer brauchen Schutz und Stabilität
Frauen, die ihre Peiniger anzeigen, erhalten laut Winkler eine Kurzaufenthaltsbewilligung. «Wir organisieren eine sichere Unterkunft und leisten eine engmaschige, umfassende Betreuung im Alltag und im Strafverfahren, welches sehr belastend ist für die Frauen.» Denn die Frauen hätten in der Schweiz kein soziales Netz, seien teilweise schwer traumatisiert und gefährdet. Finanziell würden sie von der Opferhilfe, bzw. von der Sozialhilfe unterstützt.
Grund zur leisen Hoffnung besteht dennoch. Während ein Bericht der Arbeitsgruppe Menschenhandel im Jahr 2001 davon ausging, dass nur rund 1 Prozent der Fälle von Menschenhandel von den Opfern angezeigt wurde, zeichnet Winkler ein positiveres Bild. «In den letzten 10 Jahren ist viel geschehen!»
«60 Prozent der in unserem Programm betreuten Frauen sind bereit, gegen Täter Anzeigen zu erstatten oder Informationen an die Polizei zu geben. Wir führen das darauf zurück, dass sie sich geschützt, ernstgenommen fühlen, und dadurch auch wagen, auszusagen.» Niemand würde aber überredet werden, Anzeige zu erstatten, betont Winkler. Es soll die Entscheidung der Frau selber sein, denn sie müsse auch die Konsequenzen tragen.
Schweiz ist für Prostitution attraktiv
Sowohl Justiz, Opferhilfe wie auch das Rotlichtmilieu sind sich einig: Die beste Prävention vor Menschenhandel ist Hilfe vor Ort. Denn das Problem dieser Ausbeutungsform liegt vor allem im grossen Wohlstandsgefälle. Verbesserungen müssen als vor allem in Bezug auf die Situation im Heimatland, unter anderem bei der Ausbildung oder bei der Arbeit erfolgen, sagt Staatsanwältin Steiner. Verbesserungsmöglichkeiten ortet sie auch bei der erhöhten Sensibilisierung, der mit diesem Phänomen befassten Behörden.
Man sollte in solchen Ländern im Fernsehen vor Menschenhandel warnen, sagt wiederum die Bordellbesitzerin. Und dennoch ist sie überzeugt: Zwangsprostitution kann nicht verhindert werden.
Die Fakten scheinen ihr Recht zu geben. So steht im fedpol-Bericht: «Menschenhandel ist und bleibt ein Delikt, das hohen Gewinn verspricht und mit einem verhältnismässig geringen Risiko einer Strafverfolgung verbunden ist. Die vergleichsweise liberalen gesetzlichen Rahmenbedingungen betreffend Prostitution und die immer noch relativ hohen Preise, die hierzulande für sexuelle Dienstleistungen bezahlt werden, machen die Schweiz für ausländische Prostituierte, aber auch für Menschenhändler im Hintergrund zusätzlich attraktiv.»
[INDENT]Art. 182 StGB: Menschenhandel
- Absatz 1: Wer als Anbieter, Vermittler oder Abnehmer mit einem Menschen Handel treibt zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung, der Ausbeutung seiner Arbeitskraft oder zwecks Entnahme eines Körperorgans, wird mit Freiheitsstrafe oder Geldstrafe bestraft. Das Anwerben eines Menschen zu diesen Zwecken ist dem Handel gleichgestellt.
- Absatz 2: Handelt es sich beim Opfer um eine unmündige Person oder handelt der Täter gewerbsmässig, so ist die Strafe Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr.
- Absatz 3: In jedem Fall ist auch eine Geldstrafe auszusprechen.
- Absatz 4: Strafbar ist auch der Täter, der die Tat im Ausland verübt. Die Artikel 5 und 6 StGB sind anwendbar.
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Frauen, die zu Prostitution gezwungen werden, sind auch in der Schweiz Realität. keystone